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Das GVSG: Implizite Systemfragen ohne Antworten

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Derzeit schlägt der dritte Referentenentwurf des „Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune“ (GVSG) in den Medien Wellen. In diesem Omnibusgesetz werden unterschiedlichste Sachverhalte geregelt. Man findet jetzt u.a. neue Regelungen zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung, eine Verpflichtung der Krankenkassen zur Mitfinanzierung von Medizin-Studienplätzen, eine bescheidenere Zielsetzung bei den „Gesundheitskiosken“, also den Beratungseinrichtungen, die lt. BMG einen relevanten Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen leisten sollen, eine eigene Bedarfsplanung für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und vieles mehr. Die in der Vorläuferversion enthaltene Streichung der Homöopathie als Kassenleistung ist wieder raus, aber angeblich verfolgt Karl Lauterbach den Plan auf anderen Wegen weiterhin.

Über jeden Punkt des Gesetzes kann man streiten. Man könnte aber auch einmal über Fragen zur grundsätzlichen Architektur des Gesundheitssystems diskutieren, die in den Regelungen des GVSG aufscheinen, ohne wirklich beantwortet zu werden.

Kommunale Regiekompetenzen

Das GSVG ist als Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune betitelt. Es verweist damit auf einen wichtigen Aspekt der Versorgungsqualität: wohnortnah ausreichende Versorgungsangebote. Dieser Punkt ist ein zentraler Streitpunkt bei der Krankenhausreform. Dort wird der Zielkonflikt zwischen einer erwünschten Zentralisierung komplexer Leistungen, z.B. der Versorgung von Schlaganfällen, Herzinfarkten, Frühgeborenen usw. in dafür auch entsprechend ausgestatteten Häusern und der Wohnortnähe der Angebote explizit diskutiert. Im GVSG, das vor allem die ambulante Versorgung betrifft, wird die gesetzlich vorgeschriebene Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Regionen durch Instrumente wie die Gesundheitskioske und die Gesundheitsregionen adressiert. Beides sind Add-ons zur bisherigen Regelversorgung, bei denen die Kommunen Initiativrechte und eine Mitfinanzierungsverpflichtung haben. Daneben besteht weiterhin der Sicherstellungsauftrag der kassenärztlichen Vereinigungen im ambulanten Bereich und der der Länder im stationären Bereich. Diese Planungsbereiche werden aber nicht in Beziehung zueinander gesetzt. Inwiefern man die Regiekompetenz der Kommunen, z.B. über die Gesundheitsämter, systematisch stärken sollte, wie weit die Verantwortung der Kommunen zur „Daseinsvorsorge“ auch im Gesundheitsbereich reaktiviert werden sollte, bleibt offen. Das hat sicher viele Gründe, angefangen damit, dass man Grundsatzfragen im Gesundheitswesen gerne vermeidet, dass die Gesundheitsämter trotz „Pakt für den ÖGD“ dafür gar nicht gerüstet wären und last but not least, dass man jeden Hauch von „Staatsmedizin“ scheut, zumal mit der FDP in der Regierung. Die Frage, ob die Kommunen nicht dennoch relevante Infrastrukturaufgaben für eine regionale Gesundheitsplanung übernehmen könnten, z.B. was eine aussagekräftige kommunale Gesundheitsberichterstattung angeht und planungsrelevante kommunale Gesundheitskonferenzen, bleibt im GVSG, abgesehen von den mit den Gesundheitskiosken und Gesundheitsregionen angelegten Keimen, unbeantwortet.

Sektorenübergreifende Versorgung

Seit vielen Jahren wird darüber diskutiert, dass ambulante und stationäre Versorgung besser aufeinander abgestimmt werden müssen. Beide Bereiche werden nicht nur, wie erwähnt, unterschiedlich beplant, die stationäre Versorgung durch die Länder, die ambulante Versorgung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, es gibt auch regelmäßig Streit um Zuständigkeiten für einzelne Leistungen und deren Finanzierung. Es gibt einzelne Instrumente, die eine sektorenübergreifende Versorgung verbessern sollen, z.B. die – weitgehend zahnlosen – „§90a-Gremien“ auf Landesebene oder die im Aufbau befindliche sektorenübergreifende Qualitätssicherung. Aber das GVSG spart diese Thematik ganz aus, obwohl sie gerade mit Blick auf die Gesundheitskioske und Gesundheitsregionen wie ein Elefant im Raum steht.

Prävention und Versorgung

Zu einem gewissen Teil sind Versorgungsbedarfe die Folge einer unzureichenden Prävention. Die Prävention hat in Deutschland viele Jahre ein Schattendasein geführt. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Es gab auch vor dem Präventionsgesetz 2015 präventiv orientierte Handlungsfelder, die ungeachtet aller Defizite durchaus effektiv waren. Dazu gehören z.B. der Arbeitsschutz, der Infektionsschutz, der Trinkwasserschutz oder die Verkehrssicherheit. Wie all das konzeptionell unter ein Dach „Public Health“ zu bringen ist, wie es unter dem von der Weltgesundheitsorganisation propagierten Konzept „Health in all Policies“ weiterzuentwickeln ist, ist aber nach wie vor zu großen Teilen Terra incognita. Das GVSG will mit den Gesundheitskiosken und Gesundheitsregionen auch präventive Impulse geben, aber es weist nicht über diese beiden neuen Partialangebote hinaus. Die angestrebte „Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune“ wird ihr Potential ohne eine Stärkung der Prävention nicht entfalten können. Analoges gilt übrigens auch mit Blick auf die Pflege. Diesen Versorgungsbereich lässt das GVSG, von einigen berufsrechtlichen Kompetenzregelungen abgesehen, ebenfalls außen vor.

Körperliche und psychische Gesundheit

Das Gesundheitswesen ist traditionell auf die Versorgung körperlicher Erkrankungen ausgerichtet. Erst 1999 trat das Psychotherapeutengesetz in Kraft, das den Haus- und Fachärzten einen auf die psychischen Störungen spezialisierten nichtärztlichen Beruf mit Approbation zur Seite gestellt hat. Natürlich gab es vorher ärztliche Psychotherapeuten und Psychiater bzw. „Nervenärzte“, aber den Versorgungsbedarf bei den psychischen Störungen konnten sie bei weitem nicht abdecken. In den letzten Jahrzehnten ist die Relevanz dieses Versorgungssegments mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein getreten. Man hat verstanden, dass es sich bei den psychischen Störungen nicht um ein Randgruppenproblem handelt, sondern dass jeder (und jede) betroffen sein kann – und jeder und jede Zweite es im Laufe des Lebens auch ist. Suchterkrankungen, Depressionen oder Angststörungen sind Volkskrankheiten. Das GDVG geht darauf in einem nicht unwichtigen Punkt ein, der künftig eigenständigen Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Die Versorgung psychisch kranker Kinder wurde in der Bedarfsplanung bisher quasi als 10%-Quotenfrage der Versorgung Erwachsener betrachtet. Eine reflektierte Balance bei der Versorgung psychischer und körperlicher Erkrankungen, einschließlich der oft engen Verbindungen zwischen beiden Bereichen – Stichwort Psychoonkologie -, steht jedoch nach wie vor auf der gesundheitspolitischen Agenda.

Sozial bedingte Ungleichheit der Gesundheit

Zu guter Letzt: Eine der größten Herausforderungen für die Gesundheitspolitik ist die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen. Praktisch jede Erkrankung tritt in den unteren Sozialstatusgruppen häufiger auf als in den oberen, viele Risikofaktoren sind sozial ungleich verteilt, die Lebenserwartung zwischen Menschen in guter und weniger guter sozialer Lage unterscheidet sich um 5 bis 10 Jahre, je nach Geschlecht. Die Gesundheitskioske sollen einen substantiellen Beitrag zur Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen leisten. Karl Lauterbach wollte zunächst 1.000 dieser Einrichtungen in Deutschland, jetzt sollen es noch 220 werden. Wenn man die Gesundheitskioske gut macht, können sie mit Beratungsleistungen die ärztliche Versorgung sicher unterstützen, aber für die Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen sind sie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein, oder freundlicher formuliert, bestenfalls ein Mosaikstein in einem Bild, das an anderen Stellen mit wirksameren Instrumenten auszumalen wäre. Ob das angesichts der politischen Großwetterlage in absehbarer Zeit gelingt, ist allerdings zweifelhaft.

Das Gesamtbild fehlt

Man könnte diese Liste unschwer fortsetzen, z.B. was die Differenzierung zwischen staatlichen Aufgaben und Aufgaben der Sozialversicherung oder zwischen Aufgaben des Bundes und der Länder angeht, das Zusammenwirken der Gesundheitsberufe, die Digitalisierungsstrategie im Gesundheitsbereich oder die Frage der Relevanz der Evidenzbasierung und vieles mehr. Es geht dabei nicht darum, dem GVSG eine Art Grundsatzreform des Gesundheitswesens in Deutschland aufzulasten. Gesundheitsreformen sind immer inkrementeller Natur, Bierdeckelrevolutionen zeugen nur von Unkenntnis der Systemkomplexität. Aber auch für den kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Gesundheitswesen wäre ein konsistentes Gesamtbild richtungweisend. Man vermisst es derzeit angesichts einer Vielzahl an Gesetzentwürfen, die nicht unbedingt aufeinander abgestimmt sind. Es fehlt zudem nach wie vor an einer Nationalen Public Health-Strategie für Deutschland. Bleibt zu hoffen, dass das geplante Bundesinstitut BIPAM, falls es denn kommt, hier wenigstens hilfreiche Ansätze entwickeln wird und nicht nur einen weiteren Mosaikstein in ein unbekanntes Bild setzt.

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